Apfelbaum
Auf unserem Stück Land steht ein alter Apfelbaum. Von seinem Stamm stehen rechts und links noch zwei Teile, wie Stelzen, seine Mitte ist leer. Schaue ich durch diese weite Öffnung im Stamm, ergibt sich ein Bild dahinter, ein Rahmen, ein Blick auf die Wiese: grün, grün, Löwenzahn.
Der alte Apfelbaum blüht wieder. Die Blüten kamen schnell, kaum sichtbar war vorheriges Knospen. Scheinbar direkt und unmittelbar erschienen sie aus den knorrigen Ästen. Die meisten Äste und Zweige des Baums blieben kahl. Auf einem bereits abgestorbenen Hauptast zeigte sich an der Spitze eines dürren Zweiges, der sich flechtenüberzogen in die schüttere Krone hinauf streckt, eine einzige Blüte. Kostbarkeit des Lebens: Mit weit auseinander gestreckten Blütenblättern, weissrosa, oder apfelbaumblütenrosa, hob sich die Blüte gegen den blauen Himmel ab.
Diese Blüte ist mir Nachricht vom Sieg der Schönheit und des Lebens, auch im Niedergang. Dieser alte Baum ist seit Jahren langsam am Absterben. «Bäume sind in ihrem Leben sehr langsam!», habe ich in einem Baum-Buch gelesen. Im vergangenen Jahr, es war der Quarantäne-Frühling 2020, ereignete sich in der Wärme, ganz ohne Flugzeuge im Himmel, mit Stille, in der Natur wildes Blühen auf diesem Baum. Weissrosa Blüten, große Fülle auf dürren Zweigen, Versprechen des Lebens, bedingungslos.
Dieses Jahr ist der Baum beinahe tot. «Bäume sterben auch langsam», steht in demselben Baum-Buch. Die Blüten zeigen die letzte Baumkraft. In jenen Teilen der harten Struktur, wo noch ungehindert Wasser fliesst, ist der Apfelbaum noch lebendig, als Teil einer grösseren Gemeinschaft. Noch immer pulsiert das Leben ihn ihm, wenn auch anders, als ich es verstehe.
Was der alte Baum im Baumgarten, mir mitteilt? «Ich bin nicht allein. Ich bin Teil dieses großen Ganzen.» Er vermittelt mir in einem Augenblick die Sicht ferner Galaxien, das Hiersein vieler Mineralien und chemischen Substanzen, des Reichs der Tiere. Während ich an einen der beiden stelzenartigen Stammteile gelehnt die Nähe des Baumes suche und finde, turnt ein kleiner Vogel, es ist keine Meise, laut zilpend, nahe vor meinem Gesicht auf und ab. Ich weiss, er will mich von seinem Nest ablenken. Später verstehe ich: Das Vogelnest ist gut versteckt in einer Baumhöhle des Apfelbaums, die ich gar nicht bemerkt hatte. Dort wo die Stammteile sich wieder vereinigen und gleichzeitig die ältesten, die Hauptäste abzweigen wächst grünes Moos auf der nassen Rinde. Dort irgendwo sehe ich die den kleinen Vogel mit Wurm im Schnabel verschwinden. Ich habe die kleinen Äpfel vergessen, die im letzten Jahr auf den vertrocknenden Zweigen hingen. Fortgesetztes Leben, und vielleicht wird es auch dieses Jahr noch einige lebendige Äste mit Äpfeln auf diesem Baum geben. Äpfel sind mein Lieblingsobst, sie sind mir wirkliche Nahrung, auf allen Ebenen. Ihr Duft, ihr nasses Fruchtfleisch, die vielfarbigen Schalen, gelber Apfel; roter Apfelbaum Leben.
Bäume und andere Pflanzen, das ganze Pflanzenreich soll wichtiger Protagonist im neuen Romanprojekt «Freundschaft Genossin» werden. Die Recherche findet im Garten statt….. und ich habe mir bisher viel zu wenig Zeit für den Baum genommen. Ich sagte: ‘Ich werde über den Apfelbaum schreiben, den alten, der schon so hohl ist und fast tot.’ Ist es, dass mich sein Alter, seine raue Aststruktur, die abgestorbenen Teile, die Flechten auf den dünnen Zweigen, das Moos, die Löcher, ist es, dass alles das mir hinfällig vorkommt, morbid im wahrsten Wortsinn? Will ich nicht so genau hinschauen? Ist mir seine Art Apfelbaum zu sein zu sehr fremd? Ja, das auch. Könnte ich mich vor dieser Fremdheit retten mit einem Haiku oder einem gelehrigen Zitat: «Der Apfelbaum ist ein Apfelbaum ist ein Apfelbaum»?
Heute, unter tiefliegenden grauen Wolken an einem kalten Maientag, gehe ich zurück in den Baumgarten, zurück auf die Wiese. Ich nehme mir noch einmal Zeit für «den alten Baum, den sterbenden Apfelbaum». Still stehe ich, nahe am Stamm, komme zur Ruhe. Ruhe wie der Baum – er ist so tief verwurzelt in der Erde.
«Ob ich lebe oder sterbe, ist nicht so wichtig. Ich bin Teil von allem. Ich bin ein winziger Mikrokosmos im glänzenden Netz des Lebens. Ich bin nicht wichtig und nicht unwichtig, ich werde, ich bin da, ich vergehe.»
Ja. Warum erlebe ich mich selbst nur so selten als selbstverständlich als Teil eines Ganzen?
Das Äussere betrachten, die Rinde, die leeren Höhlungen im Stamm. Die Bakterien und Kleinstlebewesen, die Protoctisten und Pilze, die auf der Haut des Baumes leben, kann ich nicht sehen. Die Meise musste sich lärmend in mein Blickfeld manövrieren, bis ich auch ihr Leben als Teil des Baums wahrnehmen konnte. Was kann ich sehen, wenn ich den Apfelbaum sehe?
Anfangs wollte ich nur die Apfelbaumblüte vor blauem Himmel sehen. Das war mein Wohlfühlbild, das bekanntes Schönheits- und Naturdenken bedient. Ich wollte nicht die rosa-lilagetönten Schuppen der Rindenhaut an den Höhlungen des Stammes sehen. Ich wollte gar nicht so gern in den hohlen Stamm schauen. Ich weiss aus meinem Baum-Buch, es sind dort viele Arten von Pilzen dabei sich vom sterbenden Baum zu ernähren, den Baum dabei von innen immer weiter aushöhlend. Wieso will ich diese Pilze und Zwischenwesen, diese Bakterien und Viren nicht als Leben wahrnehmen?
Warum dachte ich: «Der Apfelbaum blüht und stirbt!», während er mürbe, schwarz und hell vor mir steht, wortlos?
Diese Serie von BLOG Beiträgen zur Entstehung von «Freundschaft Genossin» soll auch dazu beitragen, dass LeserInnen über die Entstehung eines Romans oder einer Geschichtensammlung besser informiert sind.
12.05.2021