Heimisch in der eigenen Biographie
Mein Studien-Thema bleibt auch im Jahr 2020 vorläufig, «Biographie und Autobiographie». Im Moment bin ich in Kathmandu. Ein Freund sendet uns den Hinweis auf einen Vortrag. Wir fahren mit dem Taxi durch die extrem luftverschmutzte Stadt bis nach Boudha und hören 2 ½ Stunden einer Wissenschafterin zu, deren Studien ich extrem faszinierend finde.
Cècile Ducher hat zehn Jahre lang Quellenforschung in alten tibetischen Texten betrieben, um die verschiedenen «Schichten» der Biographie von Marpa, dem Übersetzer freizulegen. Er lebte im Tibet des 10. Jahrhunderts und reiste mehrmals von Tibet nach Indien, um von dort buddhistische Texte – und deren Verständnis – übersetzt nach Tibet zurückzubringen. Die erste Biographie von ihm wurde im 12. Jahrhundert verfasst, davor war sie mündlich überliefert worden. Viele Lebensbeschreibungen dieses bekannten Meisters folgten. Je nach sozial-politischer Situation wurden in seinen verschiedenen Biographien über die Jahrhunderte hinweg bis ins 20. Jahrhundert starke Veränderungen vorgenommen; Teile seiner Lebensgeschichte wurden weggelassen, neu angeordnet oder überproportional betont.
Es ist eigentlich das gleiche, was wir machen, wenn wir über uns selbst schreiben – im Tagebuch oder in autobiographischen Skizzen. Es muss kein Jahrtausend vergangen sein, doch wir lassen weg oder schmücken manches aus, erinnern und – oder eben auch nicht – ziehen Bekanntes hervor und schrecken vor Vergessenem, unserer Schattenseite, zurück.
Das autobiographische Schreiben kann eine neue Herausforderung sein, sich selbst zwischen Wahrheit und Traum angesiedelt wiederzufinden, in fremden oder bekannten Welten.
So entsteht die Möglichkeit immer heimischer zu werden in der eigenen Autobiographie.
02.02.2020