Und plötzlich – Inspiration
Inspiration gehört zur Kunst – aber auch in den Alltag
Wirtschaftskrise, Klimakrise, Krieg, Elend in Afrika, in Asien, einige Jahre Covid-Pandemie, Waldbrände, Überschwemmungen, noch ein Krieg, Klimakrise. Wir leben als Kollektiv in harten Zeiten, jeder von uns ist gefordert. Improvisieren, sich bescheiden, und sich, auch politisch, nicht mehr auszukennen ist für uns verwöhnte Mitteleuropäer neu. Verschärft wird die Situation seit wenigen Jahren noch durch selbsternannte «Welterklärer» in den sozialen Medien.
Nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Menschen, die ich kenne, fehlt es immer öfter an Inspiration. Ich fühle mich dann tagelang etwas «flügellahm». Der einzige Weg, den jede für sich persönlich aus den diversen Dilemmas finden kann, so sehe ich das, führt über Einfachheit, Klarheit, Herzensgüte, Kreativität – und Inspiration.
Eine Kursteilnehmende hat mich kürzlich während eines Workshops gefragt, wie es für mich ist, mit der Inspiration. Ob ich auch immer ein Notizheft bei mir führe, damit ich schnell alles aufschreiben kann, wenn die Inspiration auftaucht?
Ich wusste nicht so recht, was antworten. Ja, ich trage seit meiner Jugend meistens eine Art Notizbuch mit mir. Es ist ein kleines Heft, in welchem ich aber mittlerweile eher Einkaufslisten notiere, oder, beim Lesen unterwegs, Zitate aus Texten herausschreibe. Gelegentlich findet auch ein Gedicht oder ein besonderer Satz den Weg in das Heft für unterwegs.
Meine Antwort an diesem Tag fiel daher etwas dürr aus: die Kunst-Arbeit sei eben mein Beruf, da arbeite ich kontinuierlich, mit und ohne Inspiration. Und: „Man kann auch Tonaufnahmen mit dem Handy machen…“
Und die Inspiration? Ist sie wirklich nötig?
In Zeiten wie diesen scheint diese Frage fast überflüssig: Natürlich brauche ich Inspiration zum Leben! Sonst werden die Tage eine schale Angelegenheit, ein repetitives sich Einfügen in die Geschehnisse, die scheinbar von anderen diktiert werden.
Inspiration ist für mich auch eine Erfahrung von innerer Freiheit, ein Moment in welchem aus etwas, mit dem ich mich beschäftige, und für das ich keine Lösung finde, etwas Neues, Unerwartetes hervortaucht. Eine innere Weite stellt sich ein, neue Sichten, tiefes Durchatmen. Es ist ein klar erkennbares, wenn auch kurzes Ereignis. Kraft wird dadurch hervorgerufen, die sich in meiner Arbeit, in meinem Leben, ausbreitet. Danach fällt alles auf seinen Platz, wie von selbst. Geht es ums Schreiben, scheint die Geschichte sich selbst zu erzählen. Ich brauche nur zu schreiben. Menschen die mit dem Begriff «Flow», auch aus dem Sport, vertraut sind und solche Momente erlebt haben, wissen, wovon ich hier schreibe.
Ich will inspiriert sein und andere Wesen inspirieren, auch im Verlauf meines Alltags. Ich lächle, zum Beispiel. Auch in der Öffentlichkeit. Sicherlich hat meine tägliche buddhistische Praxis der letzten vier Jahrzehnte beigetragen, dass ich diese innere Weite hervorholen kann, die Freiheit, in meinem Alltag sanft aber bestimmt ja oder nein zu sagen.
Manchmal erscheinen inspirierte Momente beim Gehen oder in Gesprächen mit anderen Menschen. Beim Lesen kann ich Inspiration in Büchern finden, die mich berühren – oder sie erscheint in der Stille eines Zimmers an einem Winternachmittag. Sogar beim Kochen kann es diese Momente geben, wenn einige Zutaten, die gerade zur Hand sind, sich bereits in meiner Fantasie zu einem ungewöhnlichen Gericht kombinieren, und ich während des kreativen Zubereitens nur noch mit dem Geruchssinn die einzelnen Gewürze dazu aussuche – und es dann köstlich schmeckt.
Was benötige ich, um einen Zustand der Inspiration zu finden? Sicherlich vor allem eine entspannte Umgebung, innere Ruhe und auch ein Gefühl von Angenommen-sein in der Welt. Mich selbst annehmen, Selbstwert in dem, was ich gerade mache. Es gibt einige Orte, die ich aufsuchen kann, wenn mir die Inspiration für meine Arbeit ganz abhandengekommen ist: einen Wald, einen See, eine Stadt, ein schönes Museum, ein Museums-Café.
Vor einigen Tagen war ich an einem meiner Lieblingsorte in der Schweiz, dem Museum Rietberg in Zürich. Ich hatte gerade Zeit genug, um einige jener antiken Figuren zu besuchen, deren Betrachtung mich immer wieder berührt. Im Untergeschoss des Neubaus, in der ausgestellten Sammlung, ging ich zuerst zu den drei etwa fünfzig Zentimeter großen Tänzerinnen aus Terrakotta, ein Fund aus China. Vielleicht, weil es wirklich nur ein kurzer Besuch bei ihnen war, fielen mir diesmal die Gesichter und der Gesichtsausdruck jeder der Tänzerinnen besonders auf. Ich stand nahe bei ihren Gesichtern, durch eine Glasscheibe von ihnen getrennt.
Sie haben die Armbewegungen von Tanzenden, ihre Gesichter wirken nicht unbedingt han-chinesisch. „Die sind ja tieftraurig!“, dachte ich. Mein Herz öffnete sich beim Betrachten für einen Moment «aller Trauer». Es kam eine Welle der Zeit. Ich spürte den Gruß eines Keramikkünstlers – über mehr zwei Jahrtausende hinweg – spürte seine Trauer, erfühlte, wie er oder sie jedes dieser Gesichter mit einem eigenen Ausdruck zeitlosen Ernstes versah. Dieses berührt werden, und mich berühren lassen beim Betrachten asiatischer Tonskulpturen aus dem 3. Jhd. v.Chr. wirkt noch immer nach.
Ich sage: „Es war eine besondere Art der Inspiration.“ Sie wird, bei Gelegenheit, wenn ich an «Freundschaft Genossin» weiterschreibe, wieder hervorkommen und etwas in die Entstehung der Geschichte einbringen.
Was es sein wird, weiß ich noch nicht.
Doch ich freue mich darauf.
Diese Serie von BLOG-Beiträgen ist seit dem Jahr 2020 der Entstehung meines Buch-Projektes «Freundschaft Genossin» gewidmet.